Pozzoleone, Via Vegra di Sopra, July 2021

Here one can meditate about the omissions – the eloquence of absence – part of what Guidi has chosen to leave out. Photography is choosing. Maybe more than showing, photography is not showing.

Guido Guidi, Pozzoleone, Via Vegra di Sopra, 1985
From book In Veneto, 1985-89 (Mack 2019), Page 38

Pozzoleone, Via Vegra di Sopra, July 2021

Guido Guidi, Piazzola sul Brenta, Frazione di Presina, Via Santa Colomba, 1985
From book In Veneto, 1985-89 (Mack 2019), Page 34 und 35

Die von Guidi 1985 abgebildetet Kirche Santa Colomba hatte ich bereits während der Vorbereitungen auf meine Reise auf Google Street View „entdeckt“. Zum Zeitpunkt der Google-Aufnahme war das Gebäude zu kaufen gewesen.

© Google Street View, May 2021


Als ich dann im Juli 2021 in echt vor der Kirche stand, fühlte sich das wunderbar an, vielleicht wie ein Etappensieg.

Die beiden Oleandersträucher waren in der Zwischenzeit zu stattlicher Größe herangewachsen, das Objekt war offenbar erworben worden, denn die Fensterläden waren frisch lackiert, das Dach und die straßenseitige Ziegelmauer war liebevoll restauriert worden.

Bei meiner Erstbegehung am frühen Morgen stellte ich fest, dass ich noch einmal würde herkommen müssen, da die Front erst am Nachmittag im richtigen Licht erscheinen würde. Ich beobachtete eine ältere Frau, wie sie das Gebäude aufsperrte und die Fensterläden öffnete. Sie erzählte mir später, dass ihr Mann auf dem Anwesen aufgewachsen wäre und sie es darum gekauft hätten. Von Guido Guidi Bildern wusste sie, vor Jahren hatten Bekannte aus den USA ihr Kopien geschickt. Für ein Foto vor dem Gebäude konnte ich sie leider nicht gewinnen, sie meinte sie wäre viel zu alt und zudem falsch gekleidet. Dem konnte ich naturgemäß nicht zustimmen, denn genau wie sie war, wäre ein wunderbares Bild entstanden.

Piazzola sul Brenta, Parrocchia di Presina, Chiesa Santa Colomba, July 2021

Guido Guidi, Piazzola sul Brenta, 1985
From book In Veneto, 1985-89 (Mack 2019), Page 39

Piazzola sul Brenta, Presina, Via Grantorto, July 2021

Dieser Platz war schwierig zu finden, denn im Buch ist nur Piazzola angeführt. Nachdem ich eineinhalb Tage wirklich jede Gasse dort durchkämmt hatte, begann ich Menschen vor Ort zu befragen. Eine Gruppe älterer Männer zeigte sich anfangs ratlos, brachte mich aber auf die Idee, dass einige umliegende Ortschaften zum Gemeindegebiet von Piazzola gehören würden. So fuhr ich also die umliegenden Orte an und wurde schließlich in Presina fündig, ziemlich nahe der Parrocchia di Presina – Chiesa S. Colomba, die ich zwei Tage zuvor gefunden und fotografiert hatte (siehe hier). Ein wohliges Gefühl der Freude!

Guido Guidi, Belvedere di Tezze sul Brenta, Via Nazionale, 1985
From book In Veneto, 1985-89 (Mack 2019), Page 32

Belvedere di Tezze sul Brenta, Via Nazionale, July 2021

Guido Guidi, Marghera, Piazza Sant´Antonio, 1986
From book In Veneto, 1985-89 (Mack 2019), Page 7

Marghera, Piazza Sant´Antonio, July 2021

In Veneto, 1984-89
Guido Guidi


Text von Brad Feuerhelm
Übersetzung aus dem Englischen

Ich möchte hier den Mack-Titel In Veneto, 1984-1989 (2019) von Guido Guidi untersuchen. Es ist dies jenes Buch von Guidi, das mein Verständnis von seinen Arbeiten in einem gänzlich anderen Kontext als frühere Titel begründete. In diesem Buch geht es um fotografische Faszination und bestimmte Arten der Bilderzeugung, bei denen die Geschwindigkeit verringert werden muss, um sie vollständig zu würdigen.

Es gibt viele Fotograf*innen, die im Großformat arbeiten und Bilder erstellen, die hinsichtlich ihrer Bildkomposition oder ihres Inhalts einen gewissen „Pop“ aufweisen. Ich denke hier insbesondere an Joel Sternfeld und Stephen Shore, von deren Arbeit Guidi vermutlich ein Fan ist, wenngleich ihre Ziele unterschiedlich sind. Das verbindende Thema dort wäre Farbe und der post-egglestonische Vorschlag von Rot oder Gelb. (…)
Guidis Arbeit ist langsam und rücksichtsvoll und widmet dem Spektakel weniger Aufmerksamkeit als der Motivation, langsam durch Bilder zu grübeln.

Vielleicht noch wichtiger ist, dass Guidis in den 80er Jahren entstandene Arbeit stark auf die ländliche Landschaft ausgerichtet war und er mit seiner großformatigen Kamera Denkmäler für den Alltag in seinen Ausschnitten vorschlug. Historische Präzedenzfälle betreffend erinnern mich viele von Guidis stillen und menschenlosen Fotografien an Eugene Atget. In der Arbeit beider Künstler steckt etwas Monumentales, Langsames und Ungetümhaftes. Atget, der über die Veränderungen der Moderne nachdachte, befand sich an einem perfekten Punkt in der historischen/fotografischen Zeit, während Guidi seine Arbeiten speziell für die italienischen 80er Jahre herstellte, also 70 Jahre später, zu einer Zeit also, in der beschleunigte Veränderungen mehr als greifbar und spürbar wurden.

Wir haben einen hypermodernen technologischen und wirtschaftlichen Wandel durchlebt, der die sozialen und physischen Landschaften auf eine Weise überdeckt, dass mit Sicherheit davon auszugehen ist, dass Guidis In Veneto nicht zweimal auf dieselbe Weise nachverfolgt werden kann.

Ich vermute, wenn ich nach Cesena reisen würde, wo Guidi lebt und noch arbeitet, könnte ich denselben braunen Anstrich beobachten, der von derselben Holztür abbröckelt. Und dennoch fühlt sich dieses Buch bis zu einem gewissen Grad wie eine Zeitkapsel an. Aber ich denke, dass viele der Veränderungen, die wir in den letzten 40 Jahren erlebt haben, auch Teile seiner lokalen Landschaft verändert haben werden.

Weitere Überlegungen zu den Unterschieden zu den transatlantischen Zeitgenossen von Guidi gehören angestellt. Anstatt starke formale Kompositionen wie seine amerikanischen Kollegen zu erschaffen, vermag es Guidi, mit seiner Großformatkamera im Kleinbild zu denken.

Der Punkt ist, dass die Bilder die Kennzeichen der Großformatfotografie tragen, indem sie scharf, tief und kalibriert sind, und sich auf einem riesigen Stativ auf dem örtlichen Gelände bewegen müssen. Die Bilder selbst haben jedoch etwas, was wir als Schnappschuss-Ästhetik bezeichnen könnten.

(…)

Bei dieser Betrachtung ist noch zu erwähnen, dass es im Buch eine Reihe von Bildern gibt, die sich anfühlen, als wären sie aus dem Autofenster heraus gemacht, während des Fahrens, oder während eines kurzen Stopps für einen Schnappschuss.

Diese Art von Bildern ist nicht neu. Bei Guidi und seinem Fokus auf den Alltag ist aus meiner Sicht jedoch interessant, dass man einige der Fotos von In Veneto, 1984-1989, mit Bildern in Verbindung bringen kann, die in Google Street View zu finden sind. Die unscharfe Vignettierung von Google Street tritt zwar in der Arbeit nicht auf, aber die Kamerapositionen, der seltsame Fokus von Straßenkreuzungen und die unangenehme Platzierung von Personen fühlen sich so an, als ob die Umgebung „erfasst“ anstatt fotografiert wurde. Es wäre wohl schwierig, eine längere Verteidigung dieser Hypothese aufzubauen, aber wenn Sie sich etwas Zeit nehmen, um zu bedenken, dass Guidis ländliche Bilder einen Widerstand gegen das städtische hyper-sensationelle Bild darstellen, könnte man dieser Idee eine Ebene hinzufügen, indem man vorschlüge, seine Fotografien ​​fühlten sich an wie die letzte Kartierung des ländlichen Raums mit analogen Mitteln.

Marghera, Piazza Sant´´ Antonio © Google Street View, 2021

Guidi wiederholt ein Bild von Menschen auf diesen Straßen, die er betrachtet. Sie zeigen einen Marker, ein Zeitdenkmal (Kleidung, Stil usw.) und eine Skala an. Meine Lieblingsporträts sind die Bilder eines Mannes mit Schnurrbart, der entweder in die Ferne schaut oder auf etwas weiter unten zeigt. Er ist eindeutig einer der wenigen Komplizen im Buch, da die meisten Porträts ein Produkt der Umwelt sind und sich ihre Motive nicht wiederholen.

Die Farbe Rot ist auch in dem Buch sehr präsent, von der Beschriftung bis zur Verwendung des Fokus innerhalb des Rahmens, was Guidis natürlich gedämpfte und manchmal schlammige braune Palette ausgleicht. Die vereinheitlichenden Vorschläge, wie Guidi möchte, dass Sie sehen, was er tut, sind sehr subtil und in ihrer Subtilität liegt die Antwort auf das wie und warum er seine Leidenschaft in Fotografie und Gemeinschaft investiert hat. 

Guidi ist ein wahrer Meister des Mediums, dessen Relevanz ich endlich verstehen kann. Die kontemplative, reife und intrinsisch besorgte Arbeit erinnert mich im Kern daran, was die Fotografie denjenigen bietet, die ihre Umarmung suchen – nämlich jene langsame und bedeutungsvolle Weise, Bilder zu betrachten und zu machen, welche ein Gräuel sind für eine Welt, die sich ungebremst immer schneller dreht. Indem wir uns diesen Bilder widmen, haben wir die Gelegenheit, uns zumindest einen Moment lang Zeit zu nehmen, uns auszuruhen, bevor wir zur nächsten epochalen Umwälzung aufbrechen.

Höchste Empfehlung.

Quelle: https://americansuburbx.com/2020/03/understanding-guido-guidi-in-veneto-and-lunario.html
Buchabbildungen: © Guido Guidi/Mack 2019


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In Veneto, 1984-89
Guido Guidi

Mack 2019
Silkscreened paper hardcover
24 x 30 cm, 64 pages 
ISBN 978-1-912339-62-4


View and/or buy:
https://mackbooks.co.uk/products/guido-guidi-br-in-veneto?_pos=1&_psq=in%20vene&_ss=e&_v=1.0




Über Guido Guidi

Text von Agnès Sire
Übersetzung aus dem Englischen

„Es gibt Dinge, die ich auf dieser Welt nicht mag. Ich könnte ironisch sein, aber ich achte sehr darauf, es nicht zu sein.“

Im Gegensatz zu vielen anderen Fotograf*innen hat Guido Guidi keine Lust, eine dominante Figur zu sein. Er versucht nicht, einen Raum zu kontrollieren. Er drängt sich dem, was er fotografiert, nicht auf. Er nimmt daran teil, er identifiziert sich damit. 

Etwas ans Licht zu bringen, beginnt für ihn mit dem Reinigen und Vermeiden von Klischees, statt mit dem Komponieren. Er zögert, von „Landschaft“ zu sprechen, weil der Begriff übermäßig verwendet wird. (…)

Seine Fotografien, die er manchmal als „hässlich“ bezeichnet, sind der tiefgründige Ausdruck seiner territorialen Herkunft, in einem ehemaligen landwirtschaftlichen Gebiet am Rande einer heute von einer Autobahn durchzogenen Vorstadt. 

Geboren 1941 in der Nähe der norditalienischen Stadt Cesena, wo er noch heute lebt, ist Guidi ein Mann vieler Paradoxien. Er wurde als Architekt ausgebildet und unterrichtete in Venedig und Ravenna, aber seine Methode basiert eher auf dem Hinterfragen, als auf dem Erklären. 

Nach diversen frühen Experimenten mit der Schwarz-Weiß-Fotografie Ende der 1960er Jahre begann er trotz der scheinbaren Banalität der Ansichten, die schnelle Aufnahmen zu erfordern scheinen, Farbnegative in einer Großbildkamera zu verwenden. Gleichzeitig hängt er an kleinen Drucken, nicht selten an Kontakten, während sein Negativ große Formate zulassen würde.

Er hält keine Distanz, wie es seine fotografische Technik implizieren könnte; vielmehr übt er seine Kontrolle über das Alltägliche aus, ohne zu versuchen, sich davon zu trennen. Und er reist sehr wenig, aber wenn er es tut, dann vor allem, um eine Verwandtschaft zwischen den Städten, zwischen den Randgebieten im Prozess der Industrialisierung oder der Verlassenheit zu finden. Tatsächlich kehrt er den Touristenattraktionen in der Innenstadt den Rücken, die zu „Bijou-Residenzen“ geworden sind, die ihn wenig interessieren. 

Was er betrachtet, ist der Alltag um ihn herum, der sich jedoch verändert, egal wo er ist. Guidis Ansichten zeigen in ihrer Vergänglichkeit, was Gemeinplatz ist, noch nicht fertiggestellte oder verfallene Orte, vernachlässigte Räume, an denen die manchmal in der Serie vorkommenden Menschen entweder auffällig in einem klar definierten Rahmen posieren oder zufällig in der Ferne vorbeiziehen. 

Guidi verwendet den Ausdruck „momentane Entscheidung“, um die Art und Weise zu beschreiben, in der er ohne jeglichen Anspruch auf Entschlossenheit ein Verhältnis zur Zeit aufnimmt, das genau das Gegenteil der „Guillotine-Klinge“ von Fotografen ist, die den schnellen Augenblick festhalten wollen. 

Guidis Auge sucht nach etwas Reinem; am Ende weiß er nicht so recht, ob es sich um Dokumentarisches oder Fiktionales handelt, aber es ist im Realen verankert. Was ihn interessiert, ist der ganz kurze Moment, in dem der Blick zum Bild wird. Hier liegt für Guidi Schönheit, wenn die unendlichen Möglichkeiten der periurbanen Räume Gestalt annehmen und sichtbar werden. 

Dies ist eine neue Form von Radikalität in der Geschichte des Mediums, eine Radikalität der Beteiligung und Solidarität mit dem, was er fotografiert, als wäre es der Ausdruck seiner Gene. 

Pasolini und Antonioni hatten sich bereits durch regelmäßige Dreharbeiten in diesen undefinierten Räumen die Freiheit des Neorealismus der Nachkriegszeit erworben.

In Summe ist dies Ausdruck von Guidis Freiheit: gewissenhaft eine sich verändernde Realität ans Licht zu bringen, die wir nicht sehen wollen. Dort, wo wir meinen, es gäbe nichts zu sehen. Damit es die Zeit überdauert. 

Ohne Ironie. 

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Quelle: https://www.henricartierbresson.org/en/expositions/guido-guidi-3/